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Samstag, 12. Oktober 2019

Samstagsplausch KW 41/19: Weißer Raum

Montag freue ich mich, als ich einen Radfahrer mit Kippa sehe. Seit dem antisemitischen Angriff auf einen Rabbiner in Hamburg im Juni sehe ich gefühlt mehr Kippot im Straßenbild und freue mich über jede einzelne.

Mittwoch, Yom Kippur, höre ich auf dem Weg von einer Besprechung zur anderen kurz vom antisemitischen Anschlag mit zwei Toten in Halle. Mir fehlen die Worte. Und Gin. Ich brauche im Büro unbedingt Notfall-Gin.

Donnerstag stecken mir die Nachrichten aus Halle noch in den Knochen und ich überlege morgens tatsächlich kurz, ob ich wie jeden Tag das Armband mit dem Magen David tragen soll. Ich bin auf dem Weg zu meinem aus Palästina stammenden Augenarzt. In der Praxis sind Menschen, deren Vorfahren vor langer oder kurzer Zeit mal aus Russland, der Türkei, dem Mittleren Osten oder von sonst woher kamen, Menschen, die in Hamburg geboren wurden oder auch nicht, Frauen, die Kopftuch tragen oder auch nicht - und ich mit meinem Magen David. Ich möchte in keine andere Augenarzt-Praxis.

Gott sei Dank müssen meine Augen im Moment nicht gelasert werden. Meine aktuellen Sehstörungen kommen vom Stress. Ach was.

Um meine Nerven und mich zu beruhigen, treffe ich mich zu Karamell-Kaffee und Lütticher Waffel mit Kollegin I, denn der Augenarzt ist praktischerweise neben dem alten Büro. Kollegin I schüttet ihr Herz aus, und ich bin froh, dass ich mich vor zwei Jahren entschied, mir einen anderen Job zu suchen, denn Kollegin II mobbt weiterhin jeweils die Person, die meine alte Funktion innehat, ohne dass die Chefs dagegen vorgehen. Dabei befand meine Ex-Chefin doch, Ursache für die schwierige Situation im Büro sei ich, müsste doch alles gut sein, seit ich weg bin ....

Meine ehemalige Stelle ist inzwischen zum zweiten Mal nachbesetzt, und ich bin gespannt, wie lange es bis zur nächsten Ausschreibung dauert. Wenn die Chefs klug sind, verhindern sie, dass meine aktuelle Nachfolgerin geht, denn aufgrund ihrer Erfahrung auf gleicher Stelle in einem anderen Bundesland ist sie ein Sechser im Lotto.

Abends sehe ich "Weißer Raum" im Ernst Deutsch Theater.



Kurz zum Inhalt: Ein Sicherheitsmann rettet eine Frau vor einem vermeintlichen Vergewaltiger. Der mutmaßliche Täter ist ein geflüchteter Marokkaner. Er stirbt. Die Gerettete ist Journalistin. Sie wittert eine Story und wirft dem Sicherheitsmann Rassismus vor, denn es ist nicht das erste Mal, dass er einen Zuwanderer schlägt. Für die Nachbarschaft wird er zum Helden, schützt doch endlich mal jemand deutsche Frauen. Sein Sohn, ein Rechtsextremer, sitzt wegen eines rassistischen Angriffs im Gefängnis und sorgt dafür, dass der Vater Kontakt zu Rechtsextremen bekommt. Schnell wird der Vater ihr Sprachrohr.

Das Stück von Lars Werner zeigt eindrücklich, wie weit Nazis und Rassisten schon wieder in die Mitte von Gesellschaft, Verwaltung, Kirche und Politik vorgedrungen sind, wie sehr sie unsere Gesellschaft vergiften. Angesichts des Terroranschlags in Halle am Vortag erhält die zurückhaltende, moderne Inszenierung noch mehr Aktualität. Leider war das Theater nur zu einem Drittel gefüllt. Ich kann nur sagen: Guckt euch diese Inszenierung an! Unbedingt!

Das Ensemble, allen voran Rune Jürgensen als Sohn, der seinen Vater zu den Rechtsextremisten bringt, ist ausgezeichnet. Viele Monologe der kargen, modernen Inszenierung gehen unter die Haut. Bei der subtil rechts-rassistisch vergifteten Grabrede, die der Sicherheitsmann am Grab des durch seine Hand gestorbenen Marokkaner halten darf, dachte ich noch, das sei Fiktion.

Gestern wird die Gedenkveranstaltung für die Toten des antisemitischen Anschlags in Halle unterbrochen, damit ein Vertreter des blaubraunen Packs, ein geistiger Brandstifter des Attentäters, dort reden darf. So schnell wird die Fiktion zur Realität.

Dieser Beitrag geht rüber zum Samstagsplausch bei Frau Karminrot. Vielen Dank für's Sammeln! Ich wünsche euch ein schönes Wochenende und eine gute Woche!

4 Kommentare:

  1. Ich gehe am 20. Oktober in “Weißer Raum“. Bin schon sehr gespannt.

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    1. Ah, ich wollte dich schon anwhatsappen und fragen, wann du gehst. Bin gespannt, wie es dir gefällt!

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  2. Was? Da hat tatsächlich ein Blaubrauner geredet? Ich fass es nicht! ( Ich war ein paar Tage auf Norderney und weitgehend internetabstinent und überhaupt ). Halle ist zu mir vorgedrungen, weil meine Tochter es in einer Nachricht erwähnte. Ich bin bis heute damit beschäftigt ( und das wird nicht aufhören ). Ach ja, das Mobbing am Arbeitsplatz! Zerstört so viel Potential, das gute Teamarbeit bietet!° Bei meinem Mann und mir sind dadurch tiefe Freundschaften auch über die aktive Zeit hinaus entstanden.
    Dir eine gute Woche!
    Astrid

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    1. Ja, und anscheinend hat sich das heute wiederholt. Unfassbar! Mobbing ist unwahrscheinlich kraftraubend. Zum Glück hat mein jetziger Chef da eine klare Position.
      Dir auch eine gute Woche!

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