Montags erinnere ich daran, was passiert, wenn es mit der Demokratie bergab geht und wie es anfing, denn die Nazis fielen ja nicht 1933 vom Himmel. Die krochen schon Jahre vorher aus ihren Löchern, wurden nicht rechtzeitig aufgehalten, auch, weil man sie nicht ernst nahm, dachte, es wird schon nicht so schlimm.
Wurde es aber.
In loser Folge gibt's hier also montags Kunst und Denkmäler gegen Faschismus, Nationalismus und Rassismus. Orte, die daran erinnern, gibt es nicht nur in unserer Stadt genug, denn wie gesagt: Wir hatten das schon mal.
Wie es zu dieser Beitragsreihe gekommen ist, kannst Du hier nachlesen.
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Gedenkstein für Samuel Sichel am Orte seines ehemaligen Getreidelagers in der Friedhofstraße in Hammelburg. Heute ist dort ein Parkdeck. |
Samuel Sichel und seine Familie leben in Hammelburg, einer Kleinstadt an der unterfräkischen Saale. Der Ort wird 716 erstmals erwähnt und ist damit einer der ältesten Städte Deutschlands. Juden ziehen erstmals im 13. Jahrhundert in die Stadt. Sie sind mehrfach von Vertreibungen, Verfolgungen und Pogromen betroffen (mehr dazu bei der
Alemannia Judaica). Die Blütezeit der Gemeinde beginnt etwa 1830 und dauert bis in die 1920er Jahre. Zu dieser Zeit sind etwa 4 % der knapp 3.000 Einwohner Hammelburgs Juden.
Samuel Sichel kam 1876 im Alter von 25 Jahren aus Veitshöcheim nach Hammelburg, dem Geburtsort seiner Mutter. Noch im gleichen Jahr heiratet er Sophie Hummel. Das Paar bekommt vier Töchter: Rosa, Meta, Fanny und Blanka. Die Familie lebt in der Kissinger Straße. Sichel, ein gelernter Bäckermeister, arbeitet als Getreidewarenhändler.
Sichel engagiert sich in der Jüdischen Gemeinde und wird 1882 ihr Vorsteher. Zwei Jahre zu vor erwirbt er ein Gartengelände in der Friedhofstraße und errichtet dort 1889 ein Lagerhaus, das in den Folgejahren mehrfach erweitert wird. Rasch entwickelt sich die Firma Sichel zu einem Großlieferant für Saatgut in der Region Hammelburg.
Als 70jähriger überträgt der inzwischen verwitwete Samuel Sichel 1921 die Firma seinem Schwiegersohn Willi Samuel. Eine erste Übergabe an seinen Schwiegersohn Bertold Baumann erfolgte 1912. Da Baumann im Ersten Weltkrieg fällt, wird eine erneute Übertragung notwendig. Bis zum Machtantritt der Nationalsozialisten ist die Firma weiterhin erfolgreich.
1933 sind 79 Hammelburger Bürger Juden (in den 1920er Jahren sind es noch knapp 120).
Ab 1934 wird durch die NS-Gauleitung in Würzburg auf Sichels Kunden zunehmend Druck ausgeübt, nicht mehr bei einer Firma mit jüdischen Inhabern zu kaufen. 1936 werden Geschäft und Lagerhaus zwangsenteignet, "arisiert". Im gleichen Jahr gelingt es Tochter Blanka, mit ihrem Mann Willi Samuel und den beiden Söhnen in die USA zu emigrieren. Sie werden als einzige die Shoah überleben.
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Kreisverkehr und Evangelisches Pfarramt mit Kirche. Hier befand sich einst das "Schabbes-Gärtchen", eine Grünfläche, die gerne genutzt wurde, um sich am Schabbes im Freien aufzuhalten. |
Samuel Sichel zieht zu seinen beiden Töchtern Rosa Stern und Fanny Baumann und ihren Familien. Wie alle noch in Hammelburg lebenden Juden ist auch die Familie Sichel / Stern / Baumann Schikanen ausgesetzt. Im September 1938 werden Sichel und seine Töchter unter Druck gesetzt, ihre Häuser zu verkaufen und die Stadt zu verlassen. Samuel Sichel lebt inzwischen seit 62 Jahren in Hammelburg, ist 87 Jahre alt und blind.
Am Abend des Novemberpogroms, am 9. November 1938, leben noch 15 Juden in der malerischen Kleinstadt an der Saale. Am Morgen des 10. Novembers gegen 7.30 Uhr beginnen SA-Männer aus Hammelburg und aus den Städten im Umkreis mit der Zerstörung jüdischen Eigentums: Unter Leitung des 26-jährigen Hammelburger SA-Sturmführers Karl Hartmann werden Geschäfte, Häuser und Wohnungen der Familien Stühler, Baumann/Sichel, Strauß, Stern/Mantel, Frank und Adler sowie die jüdische Religionsschule barbarisch demoliert.
Um 9 Uhr versammeln sich die Schläger im Hof der Synagoge, die im Innenraum kontrolliert angezündet, geschwärzt und ausgerußt wird. Am Morgen des 11. November 1938 zerschlagen Männer des SA-Sturms Hammelburg und der HJ Untererthal die angebrannte Inneneinrichtung der Synagoge mit Äxten und Beilen.
Samuel Sichel wird am 10. November verhaftet und kommt in das Hammelburger Gefängnis, von dort am 13. Dezember schwerkrank an Leib und Seele in das Gefängniskrankenhaus in Würzburg. Dort stirbt Samuel Sicher am 18. Januar 1939. Er ist auf dem Jüdischen Friedhof in Würzburg beigesetzt. Im September 1939 wird Sichels Haus an einen nichtjüdischen Hammelburger verkauft.
Samuel Sichels 64jährige Tochter Rosa Stern zieht mit ihrer Familie über Mellrichstadt nach Plauen. Sie wird im Mai 1942 nach Belzyce deportiert und dort ermordet - gemeinsam mit Sichels Urenkeln, dem 16jährigen Ernst und dem 12jährigen Norbert Neuberger.
Seine 52jährige Tochter Fanny Baumann kann mit ihrer Familie im Juli 1939 in die Niederlande emigrieren. Dort wird sie im März 1943 inhaftiert. Über das Konzentrationslager Vught-Hertogenbosch und das Sammellager Westerbork kommt sie am 25. Mai 1943 in das Vernichtungslager Sobibor, wo sie drei Tage später ermordet wird. Ihre 30jährige Tochter Fanny trifft am 8. Juni 1943 in Sobibor ein und wird ebenfalls drei Tage später ermordet.
Das Gebäude der ehemaligen Synagoge in der Dalbergstraße ist erhalten. Während der Shoah wird es von der NSV als Schweinestall genutzt, nach der Befreiung privatisiert. Die Teile der Inneneinrichtung, die die Zerstörung im Novemberpogrom und der Folgejahre einigermaßen intakt überstanden, wie die Frauenempore, wurden in den 1960er Jahren vollständig umgebaut. Eine Inschrift erinnert an das Gebäude und seine Zerstörung. Eine Gedenktafel nennt die Namen der während der Shoah ermordeten Hammelburger.
Das Gebäude der ehemaligen Religionsschule existiert ebenso wie zahlreiche ehemalige Wohnhäuser jüdischer Hammelburger. Auf dem Denkmal für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges am Rathaus findet sich auch der Name von Bertold Baumann, dem Ehemann von Sichels Tochter Fanny, dem Sichel die Getreidehandlung 1912 überschreibt.