Mittwoch, 16. September 2015

Blogger für Flüchtlinge: Mein Vater und das Feuersturm-Denkmal auf der Uhlenhorst

Heute stelle ich Dir einen für mich ganz besonderen Ort vor: Es ist das Feuersturm-Denkmal auf dem Grünstreifen zwischen Hamburger Straße und Oberaltenallee, das an die Nächte der „Operation Gomorrha“, dem sogenannten Hamburger Feuersturm im Sommer 1943, erinnert.

Das Feuersturm-Denkmal vor dem Mundsburg Center. 
Es ist kaum noch vorstellbar, dass die Gegend rund um das Einkaufszentrum „Hamburger Meile“ bis zum Zweiten Weltkrieg dicht bebaut war mit Wohnungen, Geschäften, Kinos, Lokalen … Es gab lichtarme Höfe, kaum Grünflächen und viel zu viele Menschen auf engem Raum (bei "Hallo Barmbek" gibt es eine Reihe von Bildern aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, ebenso auf der Homepage der "Mundsburg Tower", und vor dem Mundsburg Center steht eine Infotafel der Geschichtswerkstatt Barmbek mit vielen Fotos).

Ein Anziehungspunkt war das Karstadt-Kaufhaus an der Ecke Adolph-Schönfelder- und Hamburger Straße. Vom Lokal auf der öffentlichen Karstadt-Dachterrasse in 26 Metern Höhe, überragt von einem fast ebenso hohen Turm mit blauer Lichtsäule, hatte man zu Friedenszeiten einen wunderbaren Blick über die Stadt – so ähnlich, wie ich heute aus meinem Büro.

Das Feuersturm-Denkmal. 
Mit dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 endeten die Friedenszeiten.

Zwischen 24. Juli und 3. August 1943 bombardierten amerikanische und britische Flugzeuge Hamburg. Etwa 35.000 Menschen starben. Darunter waren 370 Menschen, die vor dem Angriff in der Nacht vom 29. auf den 30. Juli  in einen öffentlichen Luftschutzraum des Karstadt-Warenhauses flüchteten. Den Bombenhagel überlebten sie, aber sie waren verschüttet. Durch schwelende Kohlenvorräte gelang Kohlenoxyd in den Bunker. Als Rettungskräfte einen Tag später zu den Verschütteten durchdrangen, konnten sie nur noch Tote bergen.

Jeden Tag komme ich mindestens zwei Mal an dem kleinen Denkmal vorbei. Es wurde 1985 zum Jahrestag der Bombardierung eingeweiht, geschaffen von der Hamburger Bildhauerin Hildegard Huza, und zeigt einen in einer Mauerecke kauernden Menschen. Es steht an einem Platz, an dem bis zur Zerstörung im „Feuersturm“ ein beliebtes Café war.

Detail.
Warum ist mir dieses Denkmal so wichtig?

Ganz einfach: Es erinnert mich jeden Tag an meine Familiengeschichte. Im Sommer 1943 war mein Vater 22 Jahre alt, seit vier Jahren Soldat, durchaus begeistert von der nationalsozialistischen Ideologie in den Krieg gezogen, und gerade auf Heimaturlaub bei seiner Familie, unweit der Hamburger Straße, wo sie in einer Wohnung zur Miete lebte.

Die Nächte (und teilweise auch Tage) des „Feuersturms“ verbrachte er mit Nachbarn, seinen Eltern und der zweijährigen Schwester im Keller des Mehrfamilienhauses, Schutz vor den Bomben suchend. Als das Bombardement aufhörte, war der Kellerausgang verschüttet. Als die „Operation Gomorrha“ beendet war, waren 90 % des Stadtteils zerstört.

Der Eilbeker Weg, die Gegend, in der meine Großeltern wohnten, nach den Bombardierungen im Sommer 1943 (Quelle: Imperial War Museum / Royal Air Force)
Erst, als ich schon lange erwachsen war, mein Vater verstorben, erfuhr ich von meiner Tante, dass mein Vater in Eilbek aufwuchs, dass es ihm gelang, sich einen Weg aus dem Keller zu bahnen und sich mit Eltern und Schwester zum Eilbekkanal durchzuschlagen. Dort hatte er ein Kanu liegen, das in dieser schicksalshaften Nacht auch tatsächlich noch da war, von niemand anderem gekapert wurde, mit dem sich die Familie über die Flüsse Wandse und Rahlau nach Rahlstedt durchschlug. Die Fahrt führte vorbei an brennenden Menschen und Häusern, vorbei an Leichen, die im Kanal schwammen.

An meiner damals 43jährigen Großmutter gingen die Ereignisse dieser Nacht nicht spurlos vorbei: Sie bekam schlagartig graue Haare und war bis an ihr Lebensende schwer traumatisiert. „Oma ist im Krieg verrückt geworden“, hieß es in der Familie. „Man kann sie nicht alleine lassen. Sie lässt sogar Wasser anbrennen.“

Das Feuersturm-Denkmal. 
Meine Großeltern blieben nach der Befreiung weiterhin in Rahlstedt. Sie wurden bei einer Direktorenfamilie, deren Haus nicht zerstört war, einquartiert, in einer Altrahlstedter Villa, die noch heute steht. Mein Großvater baute nach der Befreiung ein Haus auf einem Grundstück ein paar Straße weiter – „er baute“ heißt tatsächlich, dass er selbst Stein auf Stein setzte, den Keller aushob und so weiter.

Mein Vater, schon erwachsen, blieb in der „Notunterkunft“ – notgedrungen, denn seine Eltern hatten in dem neuen Haus kein Zimmer für ihn vorgesehen, aus welchen Gründen auch immer (es gibt niemanden mehr, den ich fragen könnte).

Vielleicht war Liebe im Spiel: Die Frau, mit der mein Vater verlobt war, bevor er meine Mutter kennenlernte, war die Tochter der Familie, bei der meine Großeltern, mein Vater und seine kleine Schwester Zuflucht fanden. Die Großeltern setzten große Hoffnung in diese Liaison, hätte die Verbindung doch Wohlstand und gute Verbindungen in die böbere Hamburger Gesellschaft auch für sie bedeutet.

Allein: Mein Vater lernte auf der Arbeit eine junge Frau ohne Schul- oder Berufsabschluss kennen, geflüchtet aus Ostpreußen, untergekommen auf St. Pauli, arm wie eine Kirchenmaus, zudem mit gerade mal 19 Jahren nach damaligem Gesetz noch minderjährig und 17 Jahre jünger als er. Sie sollte meine Mutter werden.

Detail.
Die Eltern meines Vaters waren schockiert, umso mehr, als er für diese Frau zweifelhafter Herkunft Hals über Kopf die Verlobung mit der wohlhabenden Tochter aus gutem hanseatischen Hause löste und stattdessen schnurstracks mit dem Flüchtlingsmädchen zum Standesamt marschierte (und: Nein, sie mussten nicht heiraten, ganz sicher nicht. Sie wollten einfach).

Als Kind habe ich mir nie vorstellen können, dass meine Großeltern väterlicherseits mal woanders als in Rahlstedt gewohnt haben könnten. Ich war noch klein, als meine Großmutter starb, kann mich kaum an sie erinnern, und mit den leise geraunten Bemerkungen der Erwachsenen über den Krieg konnte ich erst recht nichts anfangen.

Meine Mutter erzählte mir später, dass es sie bei jedem Besuch viel Kraft kostete, mich ihrer Schwiegermutter zu entreißen, denn Oma verwechselte mich mit dem Säugling, mit dem sie damals die Bombennächte überlebte und wollte mich nicht hergeben – dass meine Tante längst erwachsen war, als ich geboren wurde, dass sie manchmal sogar neben ihrer Mutter stand, wenn meine Eltern mit mir wegfahren wollten, blendete sie aus.

Oft besuchten wir meine Großeltern väterlicherseits aber ohnehin nicht, denn durch die Heirat war das Verhältnis von meinem Vater zu seiner Familie zerrüttet (und das ist im Großen und Ganzen bis heute so geblieben, aus vielerlei Gründen). Im Unterbewusstsein hat dieses Gezerre aber auch beim mir Spuren hinterlassen – Trennungen von meinen Eltern waren lange Zeit der problematisch für mich.

Jedes Mal, wenn wir zu meinen Großeltern fuhren, fuhr mein Vater immer stur die B75 entlang, durch Eilbek hindurch. Warum er diesen Umweg fuhr, wurde nie thematisiert – oder falls doch, dann damit begründet, dass mein Vater nun mal nicht gerne Autobahn fährt. Heute ist mir klar, dass er durch seine Kindheitsstraßen fuhr, durch Straßenzüge, die inzwischen größtenteils ganz anders aussehen als vor dem „Feuersturm“.

Er hat zwar oft über den Krieg gesprochen, aber eigene Erlebnisse dabei außen vor gelassen. Dass er anscheinend als Jugendlicher so gerne paddelte, dass er sich ein eigenes Kanu zulegte, erzählte er nie. Paddeltouren machten wir nie.

Das Feuersturm-Denkmal.
Als Kind habe ich mir keine Gedanken darüber gemacht, warum nicht – es gab genügend andere Unternehmungen. Obwohl: Unter den  Kunden meines Vaters war ein Kanuverleih, und da hätte es schon nahe gelegen, dass wir mal eine Tour machten – so, wie wir andere seiner Kunden auch mit Aufträgen bedachten. Im Nachhinein denke ich mir, es hängt mit seinen Erlebnissen im „Feuersturm“ zusammen, dass ihm nicht mehr nach Paddeln war.

Wenn ich heute an dem Feuersturm-Mahnmal vorbeifahre oder -gehe, halte ich ganz automatisch einen Moment inne, denke an meinen Vater, an die Flucht durch die zerstörten Straßen und über die Kanäle und an das Glück, im Frieden leben zu dürfen – ein Glück, das viel zu wenig Menschen haben.

Die Geschichte meines Vaters  ist einer der Gründe, warum ich die Initiative "Blogger für Flüchtlinge" unterstütze.

2 Kommentare:

  1. Puh Sabine!
    Während ich deine Blogpost lese, habe ich viele Tränen in meinen Augen.
    Auch ich gehe oft an diesem Denk- bzw. Mahnmal vorbei und auch ich denke dann an meine Familiengeschichte. Auch meine Familie hat das Grauen dieser Nacht nicht vergessen, wie auch.
    Da meine Famile auch in diesem Stadtteil lebte und lebt (Generationensübergreifend) waren sie auch davon immens betroffen. Meine Mutter, Geburtsjahr 1941, hatte noch viele viele Jahre in den Trümmern gespielt. Für sie gehörte der Anblick der Trümmer zum Alltag.
    Ich danke dir für diesen besonderen und persönlichen Blogpost.
    Herzliche Grüße,
    Kirsten

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    1. Der "Feuersturm" ist zwar fest im kollektiven Gedächtnis der Stadt verankert, aber es ist für uns heute kaum noch vorstellbar, wie lange die Trümmer das Stadtbild prägten - ich achte oft auf die Plaketten an den Häusern, auf denen das Wiederaufbaujahr steht. Die wären eigentlich auch mal einen Blogbeitrag wert - hm, eine Idee für einen Mittagspausenspaziergang.
      Herzliche Grüße
      Sabine

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