Besonders schlimm sind die Nächte, wenn der Gatte nicht weiß, wo er ist, ich nicht bei ihm sein kann, er desorientiert versucht, mit Schläuchen und Kathetern aufzustehen und stürzt. Er macht dann den Pflegekräften viel Arbeit und macht sich dadurch bei ihnen unbeliebt. Letzte Nacht lag er über Stunden vor seinem Bett, weil er gestürzt war, nicht an die Klingel kam und niemand nach ihm guckte. Heute morgen fand ich ihn halbnackt in Zugluft liegend vor. Er hatte Schüttelfrost und fror. Sein Blutzucker war bei 45; er war seit Stunden im Unterzucker, ohne dass jemand es kontrollierte oder Maßnahmen ergriff. Ich mag mir nicht ausmalen, was geschehen wäre, wäre ich später gekommen. Der Gatte war völlig verängstigt, traute sich nicht, sich ein T-Shirt anziehen oder sich zudecken zu lassen aus Angst, die Pflegekräfte würden dann wieder mit ihm schimpfen. Er ist wirklich am Ende seiner Kraft. Ich habe meinen Mann lange nicht mehr so viel weinen sehen wie in dieser Woche.
Für Morgen steht eine weitere OP an, die siebte in diesem Jahr, wenn ich mich nicht verzählte. Ob die OP durchgeführt wird, wird morgen entschieden. "Jeden Morgen gibt es eine neue Überraschung, die jeden Therapieplan umwirft", meinte eine Ärztin am Donnerstagabend resigniert. Angeblich soll es die letzte sein, soll der Fuß des Gatten dann wieder soweit hergestellt sein, dass er mit Maßschuhen laufen kann. Soweit die Theorie. In der Praxis wäre es ein Wunder, wenn etwas nach Plan laufen würde. Es fällt mir immer schwerer, dem Gatten Mut zuzusprechen, Optimismus und Zuversicht auszustrahlen.
Die Augen des Gatten haben sich in den letzten Wochen massiv verschlechtert. Er ist praktisch blind. Eigentlich sollte inzwischen mit der Katarakt-Behandlung begonnen worden sein, aber durch den ausgedehnten Krankenhausaufenthalt verzögert sie sich, ist unklar, ob überhaupt noch etwas Sehkraft wiederhergestellt werden kann.
Mittwoch kam ein großes Paket von der Ostsee-Tante für den Gatten. Ich hatte ihr geschrieben, was bei uns los ist, und sie entschied sich, dem Gatten zur Aufmunterung einen über fünf Kilo schweren Eisenbahn-Atlasses ihres verstorbenen ersten Mannes zu schenken! Im Krankenhaus kann der Gatte das Buch gar nicht lesen, da kein Platz, aber in den wenigen Momenten, in denen er glaubt, wieder nach Hause zu kommen, freut er sich darauf, mit Buch und Lupe am Esstisch zu sitzen und darin zu blättern.
Ich hoffe so sehr, dass der Gatte bald nach Hause kommen kann.
Hier gilt seit mittlerweile 282 Wochen: Der Gatte und ich sind weitgehend zu Hause. Im ersten Corona-Jahr wurde der Gatte schwerkrank, im zweiten zeigte sich, dass er nicht mehr gesunden wird, im vierten hatte er einen Schlaganfall. Er ist schwerbehindert und berufsunfähig verrentet. Es geht uns dennoch vergleichsweise gut. Wir halten es gut miteinander aus, wenngleich die Erkrankungen und der Schlaganfall des Gatten zu Wesensveränderungen führten, die ein Zusammenleben manchmal sehr schwer machen.
Unsere Kontakte sind normalerweise auf das Notwendigste beschränkt, heißt: Arbeit, Ärzte, Einkaufen, Schwiegermutter und Handwerker. Ich bin dankbar, dass Corona bislang Gatten, Schwiegermutter und Tante verschonte, und hoffe sehr, das bleibt so.
Diese Woche musste ich nach Hamburg. Nach mehr als sechs Wochen, in denen ich nur in der Kleinstadt unterwegs war, war das wie ein Kulturschock. Ich hatte noch nicht mal eine Maske für den ÖPNV mit! Ich war in der alten Heimat unterwegs, kam an unserer alten Wohnung vorbei - ein merkwürdiges Gefühl. Jedenfalls war ich froh, als ich wieder zu Hause war.
Schwiegermutter käme am liebsten jedes Wochenende zu Besuch. Sie meint, ihre Besuche gäben dem Gatten Lebensmut und entlasten mich, dabei ist das Gegenteil der Fall. Sie ignoriert den Zustand ihres Sohnes total, schwärmt davon, wie schön es ist, mit uns vorm Krankenhaus zu sitzen ... Na, ich danke.
Dieser Beitrag geht rüber zum Samstagsplausch bei Andrea. Vielen Dank für's Sammeln! Über's Kochen und Einkaufen berichte ich in der Kombüse.
Ich bin einfach nur erschüttert, was euch vom Leben alles zugemutet wird, und ich hoffe von Herzen, dass es so schnell wie möglich wieder aufwärts geht mit dem Gatten ,und das dir nicht die Kraft ausgeht, für euch beide alles zu (er)tragen! Ganz liebe Grüsse von silke
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