Samstag, 1. Juli 2023

Samstagsplausch KW 26/23: Leben und Arbeiten in Corona-Zeiten CLXXII

"Sagen Sie, waren Sie das gestern im Fernsehen? So ganz kurz? Ich hab' gerade mit meiner Tochter telefoniert. Bärbel, sag ich, Bärbel, ich glaube, da ist gerade meine Nachbarin im Fernsehen. Ich muss sie unbedingt fragen, wenn ich sie das nächste Mal sehe. Und heute treffe ich Sie. Waren Sie das im Fernsehen?!" Unsere 90jährige Nachbarin war ganz aufgeregt, als wir uns an der Bushaltestelle trafen. Sie ist so entzückend! Wir werden sie vermissen, wenn wir umgezogen sind, und sie wird uns vermissen. Sicher werden wir versuchen, Kontakt zu halten, aber Karten zu Ostern und Weihnachten sind nicht das gleiche wie ein Plausch an der Bushaltestelle oder von Balkon zu Balkon. Mit letzterem überstanden wir die Corona-Zeit, als die alleinlebende alte Dame keinen Besuch bekommen, niemanden besuchen durfte.

Für unsere Verhältnisse war es eine ruhige Woche. Ich hatte viel Arbeit, machte viele Überstunden, aber das ist okay, denn ich kann sie ja ziemlich flexibel abbummeln. Erstmals arbeitete ich auch über's Wochenende. Das müsste ich nicht, aber ich wollte vor der Pressekonferenz alles hübsch haben und saß eh am Rechner. Zudem habe ich festgestellt, dass ich jede Woche für zwei Stunden mehr bezahlt werde als ich arbeite. Ich habe alle Verantwortlichen darauf hingewiesen und bekam von allen die Antwort, dass alles korrekt ist, dass ich einen Denkfehler mache. Nun denn. Mehr, als darauf hinweisen und darum zu bitten, dass die Zeiterfassung entsprechend angepasst wird, kann ich nicht machen.

Gestern fuhr ich erstmals mit dem Zug aus der lindgrünen Hölle in die große Stadt. Es war wie befürchtet chaotisch. Ich wollte den Zug um 8:38 Uhr nehmen, ging kurz nach 8 Uhr aus dem Haus, damit ich mich nicht hetzen muss, war kurz vor halb neun am Bahnhof, und um 8:34 Uhr fuhr der Zug von 8:19 Uhr ein. Die Hinfahrt lief also noch einigermaßen geschmeidig. Bei der Rückfahrt guckte ich in der App nach der nächsten Verbindung: Abfahrt 14:15 Uhr, keine Verspätung. Super. Am Bahnhof angekommen, verkündete die Übersicht 30 Minuten Verspätung. Am Bahnsteig angekommen, hatte der Zug schon 45 Minuten Verspätung. Keine Info, weder in den Apps noch auf Twitter. Ich guckte nach einer alternativen Verbindung, aber dann hätte ich in Harburg festgesessen, immer noch 20 km vom Ziel entfernt. Inzwischen weiß ich, dass von Harburg aus stündlich ein Bus fährt, der gut eine Stunde unterwegs ist (und wahrscheinlich auch übervoll).

Der Bahnsteig war inzwischen schwarz vor Menschen, es waren schon zwei Züge Richtung Bremen ausgefallen, und vom gleichen Bahnsteig fuhren auch noch diverse verspätete ICE ab, Soldaten und Junggesellenabschiede waren unterwegs. Dass auf dem engen Bahnsteig nicht öfter Leute ins Gleisbett fallen, verwundert. Ich sah dann, dass auf einem anderen Bahnsteig ein Zug nach Bremen für 14:37 Uhr angekündigt war. Dort angekommen, gab's die Ankündigung, der Zug führe von dem Gleis ab, von dem ich gerade kam - nicht, dass die Lautsprecherdurchsagen zu verstehen waren. Ich folgte einfach der Masse, die sich in Bewegung setzte. Der angekündigte Zug kam tatsächlich verspätet, war brechend voll, aber ich hatte Glück, fand einen Sitzplatz und war mit einer Stunde Verspätung zu Hause. 

Leider weiß ich, dass so ein Tag kein Einzelfall ist. Die Situation auf der Strecke ist seit Jahrenden bekannt, nur unternimmt die Bahn nichts, um sie zu verbessern, und die Privatbahn, die die Strecke befährt, kann ohne die Bahn nichts machen. Sorgen mache ich mir um den gehbehinderten Gatten, denn der geht bei solchen Menschenmassen hoffnungslos unter, landet schnell im Gleisbett, könnte nicht so lange am Bahnsteig oder im Zug stehen. Mal schauen, wie sich das einspielt - notfalls ist er öfter von Harburg aus mit einem Taxi unterwegs, denn bis Harburg kommen wir mit der S-Bahn (sofern die fährt). Und Schwiegermutter wird mit dem Auto gefahren, denn das möchte ich ihr nicht zumuten, zumal sie auch halbblind ist. 

Der Gatte hatte einen Termin bei seiner Hausärztin, die so weit zufrieden ist. Wenn kommende Woche auch die Nephrologin zum Ergebnis kommt, dass die Nieren aufgrund des Diabetes schlecht funktionieren, es keine eigenständige Erkrankung ist, können wir das Thema abhaken. 

Hier gilt seit mittlerweile 172 Wochen: Der Gatte und ich sind weitgehend zu Hause. Es geht uns vergleichsweise gut. Wir halten es gut miteinander aus, wenngleich es momentan mal wieder etwas hakt, weil der Gatte abwechselnd über- und unterfordert ist. Da ich einfach nur überfordert bin, keine Entlastung bekomme, kracht es oft. Es ist schwer, mit dem Gatten Absprachen zu treffen. Er vergisst viel, und oft hat das, was wir morgens besprachen, mittags keine Gültigkeit mehr. Ich bräuchte Verlässlichkeit, aber die gibt es nicht. Im ersten Corona-Jahr wurde der Gatte schwerkrank, im zweiten zeigte sich, dass er nicht mehr gesunden wird. Er ist inzwischen schwerbehindert und berufsunfähig verrentet. 

Unsere Kontakte sind normalerweise auf das Notwendigste beschränkt, heißt: Arbeit, Ärzte, Einkaufen, Schwiegermutter und, seit der Übernahme meines früheren Elternhauses vor einem Jahr, Handwerker. Ich bin dankbar, dass Corona uns bislang verschonte und hoffe sehr, das bleibt so. 

In der Wohnung tat sich wenig. Der Gärtner schwächelt, und wir hoffen, dass er nicht abspringt, zumal Gartenhaus und Zäune schon bezahlt sind. Glaser und Rollladenbauer sind für kommende Woche terminiert. Die Badezimmerschränke und mein neuer Schreibtisch samt Stuhl wurden geliefert, müssen zusammengebaut und aufgehängt werden. Den Tischler erreichte ich, und er weiß, was zu tun ist. Jetzt heißt es zuwarten, bis er Zeit hat. Wir haben uns entschlossen, das nicht zu öffnende Panoramafenster im Esszimmer durch ein Schwingfenster zu ersetzen. Die beiden letzten heißen Monate zeigten, dass sich die Hitze staut, und wir möchten lüften können. Heizungsbauer IV meldete sich und teilte mit, welche Teile er auf jeden Fall für die Wartung der Ölheizung bestellen und mitbringen wird. Vielleicht wird das was.

Die Rechnung für Mudderns Trauerfeier kam, und ich bin froh, dass ich dafür keinen Kredit aufnehmen muss, so, wie ich es gerade im Umfeld erlebe. Niemand sollte sich für eine Beerdigung verschulden müssen! Jetzt, wo die Rechnung da ist, kann ich mich um die Erbschaftssteuererklärung kümmern, denn da läuft die Dreimonatsfrist. Mit Mudderns Bankberater hatte ich einen Termin. Sobald der Erbschein vorliegt, werden alle Vermögenswerte auf mich übertragen und laufen so weiter, wie von meiner Mutter entschieden, bis ich etwas anderes entscheide, wann auch immer ich den Kopf dafür habe. Wir fanden auch eine Lösung für die Beglaubigungen, die die Lebensversicherung benötigt: In diesem Falle kann auch die Bank beglaubigen. Ich brauche dann noch einen Termin für die Beglaubigungen für die Lebensversicherung bei der anderen Bank, und sobald die Erbscheine da sind, können die Unterlagen auf den Weg gebracht werden. Das spart den Termin im Rathaus. Mit der anderen Bank ist der Umgang zum Glück geschmeidig, ist die zuständige Bankfrau nett, denkt mit und kondolierte. Dennoch muss auch hier die Übernahme der Vermögenswerte geklärt werden, braucht die Bank sicher Sterbeurkunde und Erbschein.

Bei dem ganzen Behördenkram ertappe ich mich dabei, wie ich meiner Mutter davon erzählen möchte. Sie hätte beispielsweise ihren Spaß daran, dass ich mir gerade selbst bescheinige, dass ich meine Lebensversicherung übernehmen darf. Ich denke oft an die Tage vor einem Jahr zurück, und das geht sicher so weiter bis zum Jahrestages ihres Tode im kommenden April. Ich weiß aber auch, dass solche Gespräche über unsinnigen Behördenkram schon seit zwei, drei Jahren nicht mehr möglich waren - ziemlich exakt seit dem Zeitpunkt, als meine Mutter beschloss, dass ich mich um ihren Behördenkram kümmern muss. 

Neben dem ominösen Putsch in Russland beschäftigte uns die Landratswahl in Sonneberg. Es ist schwer zu akzeptieren, dass 50% der Ostdeutschen und 25% der Westdeutschen rechtsextrem und für die Demokratie verloren sind. Es ist schwer, das Experiment Demokratie nicht für gescheitert zu erklären. Es ist schwer, nicht zu verzweifeln und zu verhärten. Es ist schwer, daran zu glauben, dass es für Demokraten noch eine Zukunft in diesem Land gibt. Unglaublich ist, dass eine demokratische Partei nach der anderen umfällt. Die vielzitierte Brandmauer gegen Rechts existiert nicht mehr. Eine AfD-CDU-FDP-Koalition ist nur eine Frage der Zeit, und morgen wird in Sachsen-Anhalt der erste hauptamtliche AfD-Bürgermeister gewählt. Nazis sind nach 80 Jahren wieder an der Macht.

Inzwischen ist es acht Wochen her, dass meine Hausärztin einen Antrag auf stationäre Reha für mich stellte. Ich habe immer noch nichts von der Rentenversicherung gehört und gehe davon aus, dass ich keine Reha bekomme, um eine Langzeiterkrankung zu verhindern, sondern erst komplett ausfallen muss, um eine Reha zu bekommen. Für die dreitägige ambulante Reha, die mir genehmigt wurde, gibt es noch keinen Termin. So kämpfe ich mich durch jeden Tag und versuche, nicht komplett zusammenzuklappen. 

Dieser Beitrag geht rüber zum Samstagsplausch bei Andrea. Vielen Dank für's Sammeln! Über's Kochen und Einkaufen berichte ich in der Kombüse.    


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