Samstag, 23. Juli 2022

Samstagsplausch KW 29/22: Leben und Arbeiten in Corona-Zeiten CXXIII

Eisessen mit Mudderns
am letzten Sonntag.
"Ihre Mutter scheint sich aber wohl zu fühlen im Heim", meinte eine Nachbarin zu mir, nachdem sie Mudderns zufällig auf der Straße traf. 

Ja und nein. 

In klaren Momenten weiß Mudderns, wo sie ist, dass das Heim jetzt ihr Zuhause ist, aber dann wiederum geht sie davon aus, dass sie in einer Klinik ist und wieder nach Hause kommen wird. Gespräche mit ihr sind mehr als sonst eine Wundertüte; es fällt schwer, ihr zu folgen, denn oft ist sie in anderen Realitäten unterwegs. Sie macht sich schon immer die Welt, wie sie ihr gefällt, und was ihr nicht passt, gibt es schlichtweg nicht. Klare Antworten auf klare Fragen sind selten zu bekommen - mit Glück viel später, wenn sie bei einem ganz anderen Thema ist. Es ist also weiterhin sehr anstrengend, und das wird nicht besser, je älter sie wird. Der Schwebezustand im Doppelzimmer macht es nicht besser. 

Ich bemühe mich bei allem, das Positive zu sehen: Nachdem ich letzten Freitag mit Mudderns durch fast alle Etagen des Heims ging, nutzt sie die Lese-Ecke und den Garten sehr intensiv, weil "Was soll ich den ganzen Tag auf dem Zimmer?" Dazu brauchte sie noch nicht mal den Plan, den ich ihr zwei Tage später mitbrachte. Sie zieht sich tagsüber wieder an, bleibt nicht den ganzen Tag im Schlafanzug. Sie isst inzwischen mittags im Speisesaal, nachdem sie das Heim zwei Wochen lang kirre machte, nicht entscheiden konnte, wo sie essen möchte. Phasenweise bekam sie drei Portionen, weil niemand wusste, ob sie im Speisesaal, im Gemeinschaftsraum auf ihrer Etage oder im Bett essen möchte, aber jetzt half, dass im Speisesaal Herr K. sitzt , und an seinem Tisch möchte sie auch sitzen ... Sie entschuldigte sich sogar bei den Köchen für das Hin und Her. Sie isst wieder drei Mahlzeiten am Tag (und das Essen wird im Heim frisch gekocht, ist einfach, aber altersgerecht und gut). Mudderns nahm am Erdbeerfest teil und knüpft erste Kontakte - das fiel ihr schon immer leicht; Kontakte zu pflegen hingegen nicht. Als ich ihr Freitag einen Rosenstrauß mit ihrer gewohnten Rosenvase mitbrachte, gab es noch Drama, weil sie partout keine Blumen wollte, aber als wir vorgestern unterwegs waren, sollten die verblühten Blumen ersetzt werden. Früher kaufte sie sich wöchentlich einen Rosenstrauß; es ist also ein gutes Zeichen, dass sie wieder Blumen haben möchte. Sie überlegt, wieder in die Kirche zu gehen, wenn sie sich sicherer fühlt. Momentan mag sie außerhalb des Heimes noch nicht alleine unterwegs sein.

Dass Mudderns so schwer stürzte, dass sie ins Krankenhaus musste und sofort klar war, dass sie sich nicht mehr selbst versorgen kann, nicht mehr alleine leben kann, ist heute genau vier Wochen her.

Hier gilt seit mittlerweile 123 Wochen: Der Gatte und ich sind weitgehend zu Hause. Der Gatte wurde im ersten Corona-Jahr schwerkrank, ist inzwischen berufsunfähig verrentet und schwerbehindert. Es geht uns vergleichsweise gut. Wir halten es gut miteinander aus.

Unsere Kontakte sind normalerweise auf das Notwendigste beschränkt, heißt: Arbeit, Ärzte, Einkaufen, Mütter. Ich bin dankbar, dass Corona uns bislang verschonte. Wir sind natürlich geimpft, aber angesichts unserer Vorerkrankungen ist trotz Impfung eine Corona-Infektion wenig ratsam. Angesichts der steigenden Infektionszahlen ist sie aber unvermeidbar, und ich kann nur hoffen, dass es uns dann nicht zu hart trifft. 

"Jetzt sind wir erwachsen", stellte der Gatte gestern fest, als wir im Haus auf der Terrasse saßen. Er hat recht. Wir sagen gerne, wenn wir erwachsen sind, haben wir ein Haus mit Kamin, Garten und Hund, und das alles ist jetzt in Reichweite - aber auch Kreditschulden, zumindest, sofern uns die Bank als kreditwürdig einstuft. Sonst müssen wir neu planen, schlimmstenfalls das Haus verkaufen, wobei das Mudderns nicht zuließe. Sie stimmt keinem Verkauf zu, und das Haus nach der Schenkung ohne ihre Zustimmung zu verkaufen, könnte ich nicht mit meinem Gewissen vereinbaren. Es gibt also keinen Plan B. Der Gatte meint, dass wir alles ohne Kredit schaffen. Wir werden sehen (und selbst wenn, habe ich Schulden beim Gatten - okay, der berechnet zumindest keine Zinsen). Kommenden Monat bekommen wir die ersten Kostenvoranschläge, und dann werden Fördermöglichkeiten ausgelotet, sprechen wir mit den Banken. 

Mudderns ist der Meinung, dass wir mit dem Verkauf ihrer Sammlungen gutes Geld verdienen können, aber da ist der ideelle Wert höher als der finanzielle. Ich hoffe, dass Vadderns Briefmarken und Münzen das erhoffte Geld einbringen, sofern ich sie finde ... Das Entrümpeln gestaltet sich langwierig und schwierig, denn ich muss Raum für Raum, Schrank für Schrank, Schublade um Schublade durchgehen, weil nur wenig an seinem Platz ist, Mudderns Beschreibungen zum Teil sehr kryptisch sind. Das Entrümpeln ist manchmal emotional schwierig, wenn ich zum Bespiel die letzten Fotos finde, die meinen Vater ein halbes Jahr vor seinem Tode zeigen, aber bislang komme ich gut damit zurecht. Sobald ich mit dem Sichten durch bin, kann endlich der Entrümpler kommen (und dann geht's in der Wohnung weiter, denn nicht alles wird umziehen). Wir haben uns dagegen entschieden, Möbel zu verschenken oder einen Haus-Flohmarkt zu machen, denn Aufwand und Erlös stehen in keinem Verhältnis. Wären wir vor Ort, wäre es anders, aber für die 80 km brauchen wir aufgrund der Situation vorm Elbtunnel oft drei Stunden, und das strengt zusätzlich an. Dieses und nächstes Wochenende haben wir Pause, denn der Elbtunnel ist gesperrt. Zwei Ruhetage tun gut.

Der Gatte hatte die Idee, Vorher-Nachher-Fotos von allen Räumen zu machen, und die Idee war wirklich toll! Nicht nur, dass wir sehen, was wir alles schon geschafft haben, obwohl es uns anders vorkommt, sondern wir können auch anhand der Fotos besprechen, was der Gatte machen kann, wenn er alleine im Haus arbeitet - er kann ja öfter raus als ich, muss ja nicht mehr arbeiten. So weiß er, was ich gerne erstmal aufbewahren möchte und was er bedenkenlos entsorgen kann.

Doof ist, dass wir keinen Plan haben, was Mudderns mitnehmen möchte, wenn sie ein Einzelzimmer hat. Klare Aussagen sind selten zu bekommen. So möchte sie gerne einen Sessel mitnehmen, "den, mit dem ich immer umkippe", und versteht nicht, dass genau aus diesem Grund dieser Sessel nicht mitkommt, sie einen neuen bekommt. Ich halte ein drei kleine Stapel-Tischchen, Stehlampen und zwei kleine Schränke zurück, dazu ihre erste Puppe, die noch repariert werden muss, viele Fotos und Stehrümchen. Ähnlich problematisch ist die Auswahl der Kleidung, die sie mitnehmen könnte, denn auch da gibt es keine klare Aussage, schon gar nicht zu Winterkleidung, denn da entschließt sich Mudderns prompt, nur in einer Klinik und im Winter wieder zu Hause zu sein. 

Mudderns schiebt aktuell alles auf mich ab, und so darf ich mich um ihre gesamte Korrespondenz kümmern. Gestern saß ich ein paar Stunden da und sortierte ihren Papierkram - von einem Überblick bin ich weit entfernt, aber ich habe zumindest eine grobe Ahnung und fand, was ich suchte. Ich hoffe, dass sie das alles wieder übernimmt, wenn sie im Einzelzimmer und eingerichtet ist, aber ich kenne ihre Bequemlichkeit. Zudem möchte sie jeden Tag besucht werden, ist der Überzeugung, wir wären schon in ihrem Haus eingezogen, lebten in ihren Möbeln, mit ihren Sachen, und so ruft sie an, damit ich ihr mal eben Watte, Duschgel, was auch immer vorbei bringe, versteht nicht, dass ich 80 km und nicht 220 m entfernt bin. Solche Ansinnen kenne ich von früher, als ich "mal eben" kommen sollte, weil sie beispielsweise die Fernbedienung suchte. Ich kann daher so etwas gut ablehnen, aber bei ihrem aktuellen Zustand dauert es mich mehr als sonst (und alle Versuche, mal aufzulisten, was sie alles braucht, scheiterten bislang). Immerhin machte Mudderns keine Anstalten, ins Haus zurückzukehren, sagte auch, das wolle sie bewusst nicht, um sich nicht an die Nacht ihres Unfall zu erinnern, und gab ihre Schlüssel inzwischen dem Gatten. Die Unfall-Nacht muss wirklich traumatisch gewesen sein, nicht nur gemessen an Mudderns Amnesie, sondern auch an die Spuren, die wir inzwischen fanden. Es ist ein Wunder, dass sie überlebte.

Schwiegermutter hat sich erstaunlich schnell an den Gedanken gewöhnt, dass wir umziehen. Letzten Sonntag fragte sie, ob auch ein Gästezimmer eingeplant ist, weil sie dann ja nicht mehr mal eben zum Tee kommen könne, und als der Gatte erwähnte, es zöge auch ein kleines Hundevieh ein, war sie kaum zu bremsen, bot an, Hund und Haus zu hüten, damit wir weiterhin nach Mallorca fliegen könnten. Nun, Urlaub werden wir uns nach dem Umzug nicht mehr leisten können, aber der Gedanke zählt. Der Gatte hat den Plan, dass wir kommendes Jahr im frisch renovierten Haus mit den Müttern und Tante Weihnachten feiern. Wir werden sehen. 

Dieser Beitrag geht rüber zum Samstagsplausch bei Andrea. Vielen Dank für's Sammeln! Über's Kochen und Einkaufen berichte ich in der Kombüse.

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