Samstag, 2. Juli 2022

Samstagsplausch KW 26/22: Leben und Arbeiten in Corona-Zeiten CXX

"Du musst dir mal vor Augen führen, was du alles schaffst", sagte Chef II, als ich ihn von der aktuellen Situation unterrichtete und um Unterstützung bat. "Lieber nicht, sonst klappe ich zusammen", antwortete ich. 

Dienstag hatte ich Wartezeit und konnte einfach so an der Alster sitzen. Die Innenstadt ist gerade nach dem Motto "Sommer in der Stadt" dekoriert.

Mudderns liegt seit einer Woche im Krankenhaus. Es lässt sich nicht mehr nachvollziehen, was in der Nacht von Freitag auf Sonnabend passierte, aber nach ihren Verletzungen zu urteilen, muss sie mehrfach schwer eine Treppe heruntergefallen sein und dabei auch noch kunstvolle Pirouetten gedreht haben. Es ist ein Wunder, dass sie sich dabei nichts brach. Sie selbst hat keine Erinnerung mehr. Das Krankenhaus behandelt sie auch auf Demenz, und langsam denke ich, das ist richtig. Aber es ist halt schwer zu unterscheiden, was Mudderns übliche Psychospielchen, Starrsinn, Egozentrik, Verhaltensoriginalität und Lügen sind und was dementielles Verhalten. 

Das meiste entspricht ihrem Verhalten, wie ich es seit über fünf Jahrzehnten kenne. Nur wenn ich dann im Haus Unterlagen suche oder gucke, ob alles in Ordnung ist, finde ich Stapel nicht abgelegter Briefe (Mudderns macht normalerweise einmal die Woche Ablage), ignorierte Briefe, vertrocknete Blumentöpfe ... Seit etwa einem halben Jahr schiebt sie schwierige Korrespondenz an mich ab, aber das sie Briefe total ignoriert, weil sie sie nicht versteht, negiert, sie überhaupt erhalten zu haben, ist neu. Da Mudderns gleichzeitig bei ihrer Gesellschafterin völlig klar ist, gab's bislang keinen Anlass zur Sorge. Angesichts der aktuellen Situation war auch ihre Gesellschafterin total überrascht, ist sie doch auf Demenzbetreuung geschult. Aktuell ist Mudderns ihrer Gesellschafterin gegenüber weiterhin völlig klar, während ich eine Dreijährige im Körper einen Dreiundachtzigjährigen vor mir habe. Mudderns Verhalten macht es den Ärzten auch nicht leicht, sie zu untersuchen oder eine Prognose zu stellen. Mudderns dazu zu befragen, ist sinnlos, denn sie behauptet, seit einer Woche keinen Arzt gesehen zu haben, nicht untersucht worden zu sein.

Corona erschwert alles zusätzlich. Wenn Mudderns früher im Krankenhaus war, kam ich morgens zur Visite zu ihr, aber jetzt darf ich sie nur nachmittags für eine Stunde besuchen, gibt es nur donnerstags für eine halbe Stunde eine offene Arztsprechstunde, in der die Angehörigen Schlange stehen - und die Sprechstunde findet auf dem Flur statt. Ich hoffe, ich konnte vorgestern auch den Ärzten klar machen, dass es keine Option ist, dass Mudderns nach Hause entlassen wird. Der Frau vom Sozialdienst, mit der ich gleich zu Wochenbeginn sprach, scheint das jedenfalls klar zu sein, denn sie ließ sich schon meine Vollmachten mailen, um handeln zu können. 

Mudderns bekommt aktuell im Krankenhaus eine geriatrische Reha, und parallel wird anscheinend nach einem Kurzzeitpflegeplatz gesucht. Ich suche parallel nach einem Anschluss-Pflegeplatz, bereite die Übertragung ihres Hauses auf mich vor und versuche, mir einen Überblick über ihre finanziellen Verhältnisse zu verschaffen. In klaren Momenten versteht Mudderns, dass sie nicht mehr in ihr Haus zurückkehren kann, weil es unmöglich sturzsicher umgebaut werden kann, sagt sogar von sich aus, dass sie in eine Seniorenwohnung umziehen möchte, der Gatte und ich in ihr Haus ziehen sollen. Darüber sprechen wir schon seit über 20 Jahren immer wieder, aber bislang war es keine Option, denn der Gatte hätte dann einen Arbeitsweg von 50 Kilometern gehabt - einfach und mit vielen Staus. Aber jetzt ist er ja Rentner, und mein Arbeitsweg bliebe gleich, vorausgesetzt, der ÖPNV funktioniert (was er selten tut, aber das ist auch jetzt schon so). 

Im Idealfall bekommt Mudderns einen Pflegeplatz oder eine Wohnung in der Anlage gegenüber ihrem dann ehemaligen Haus, bleibt also in der gewohnten Nachbarschaft, kann ins Dorf und in die Kirche gehen oder uns besuchen. Es gab Phasen, in denen Mudderns partout nicht in diese Anlage wollte, aber ihre Gesellschafterin, die das nicht wusste, erzählt bei jedem Spaziergang, welch freundlichen Eindruck die Anlage macht, und so änderte sich Mudderns Einstellung - in klaren Momenten. Mit diesen klaren Momenten müssen wir arbeiten. Mudderns Gesellschafterin ist in alle Überlegungen einbezogen, besucht Mudderns regelmäßig und bereitet sie auf die Änderungen vor. Wenn alles klappt, wird sie Mudderns auch in der Wohnanlage besuchen, und nach jetzigem Stand ist Mudderns kein bettlägeriger Pflegefall. In der Anlage ist die Sturzgefahr reduziert, zumindest, solange Mudderns ihren Rollator nutzt, aber das war bislang außerhalb ihres Hauses kein Problem. Außerdem bekommt sie dort eine wesentlich bessere Ernährung als zu Hause - schon jetzt im Krankenhaus ist das Essen besser als das, was sie sich zubereitet. Auch hier lehnte sie zu Hause jegliche Hilfen ab, war am Schluss sogar mit dem Essen überfordert, das ich ihr mitbrachte.

Wir haben Mudderns inzwischen wieder buchstäblich auf die Beine bekommen, so dass sie am Rollator geht, auch alleine zur Toilette etc. kann, und sie wünscht sich auch von sich aus, spazieren zugehen. Sind  weder die Gesellschafterin noch ich da, bleibt sie im Bett liegen, was schlecht ist. Aber gut, seit ihrem Sturz ist erst eine Woche vergangen. Wir müssen Geduld haben, Mudderns muss zur Ruhe kommen. Mudderns größte Angst ist aktuell, dass sie aus dem Krankenhaus nach Hause entlassen wird, wo sie alleine ist, aber bislang war es nach den Erfahrungen mit den Nachbarn zu urteilen immer so, dass es vom Krankenhaus über die geriatrische Reha in die Kurzzeitpflege ins Pflegeheim ging.

Parallel zu Mudderns Situation muss der Gatte kommende Woche ins Krankenhaus, stehen bei mir übernächste Augen-OPs an, ist im Job viel zu tun - letzteres ist allerdings am Einfachsten zu handhaben, denn Chef II und meine Kollegen wissen um meine Situation und unterstützen bei Bedarf. Allerdings haben wir auch in normalen Zeiten mehr Arbeit als Personal.

Hier gilt seit mittlerweile 120 Wochen: Der Gatte und ich sind weitgehend zu Hause. Der Gatte wurde im ersten Corona-Jahr schwerkrank, ist inzwischen berufsunfähig verrentet und schwerbehindert. Es geht uns vergleichsweise gut. Wir halten es gut miteinander aus.

Unsere Kontakte sind normalerweise auf das Notwendigste beschränkt, heißt: Arbeit, Ärzte, Einkaufen, Mütter. Ich bin dankbar, dass Corona uns bislang verschonte. Wir sind natürlich geimpft, aber angesichts unserer Vorerkrankungen ist trotz Impfung eine Corona-Infektion wenig ratsam - momentan wäre sie sogar der Super-GAU. Angesichts der steigenden Infektionszahlen ist sie aber unvermeidbar, und ich kann nur hoffen, dass es uns dann nicht zu hart trifft. Aber bei unserem Glück ... 

Da ich beinahe täglich ins Testzentrum muss, sehe ich, wie viele PCR-Tests gemacht werden, und die CWA zeigt ständig eine rote Kachel. Dennoch geben die aktuellen Zahlen nicht die wahre Infektionszahl wieder. Ich möchte nicht wissen, wie hoch die Dunkelziffer ist. Aktuell ist Chef I infiziert, was nicht verwundert, da er in den letzten Wochen auf vielen Festivals war, und eine Kollegin mit einem infizierten Sohn hat deutliche Symptome, ist aber noch negativ getestet. Im privaten Umfeld steigen die Infektionen ebenfalls.

Als dann der Gatte sich gestern freiwillig testete, da Schüttelfrost und erhöhte Temperatur, hatte ich einen kurzen "Ich kann nicht mehr"-Moment. Es ist ja nicht nur die Gefahr, die eine Corona-Infektion für den Gatten und für mich hätte, die mich belastet, sondern auch das Geschrei von Mudderns, die nicht versteht, warum ich sie dann nicht besuchen kann, und der Umstand, dass ich seit zwei Jahren generell einfach nicht ausfallen darf. Der Test des Gatten war Gott sei Dank negativ, und inzwischen, nach einem Tag Ruhe, geht's ihm besser. Er hat in den letzten Tagen extrem viel gemacht, um mich zu entlasten, dann der kurzeitige Wetterumschwung - vermutlich war das einfach zu viel.  

In den raren ruhigen Momenten, die der Gatte und ich diese Woche hatten, saßen wir zusammen und sprachen über den bevorstehenden Umzug - irgendwann Ende kommenden Jahres, sofern der Umbau bis dahin soweit abgeschlossen ist. Wir werden Eichhörnchen, Vögel und Siebenschläfer und vieles andere vermissen, aber nicht die Bolz- und Brüll-Blagen, Nachbarn, die ihren Müll über ihre Balkone in unseren Garten entsorgen, oder durch Prügeleien regelmäßig für Polizeieinsätze sorgen, oder den Verkehrslärm. Unser Leben wird sich ändern, aber wir sind noch jung genug, das zu packen, und wir leben dann in einem Haus, das wir weitgehend nach unseren Wünschen gestalten können. Wir freuen uns beide darauf. Sobald Mudderns versorgt ist, fangen wir mit der Planung an - wobei ich vermute, dass der Gatte jetzt schon Listen schreibt, um Prioritäten zu setzen und den Überblick zu behalten. 

Momentan fahre ich extrem auf Sicht, aber gleichzeitig frage ich mich, ob es nicht besser ist, den Mallorca-Urlaub zu stornieren. Normalerweise käme ich nicht auf die Idee, aber durch Corona gibt es so viel zu bedenken, und bislang gelang es mir weder, unser Handgepäck noch CPAP und Gehstock anzumelden, weil bei den Fluggesellschaften einfach niemand erreichbar ist. Dann weiß ich nicht, wie es der Gatte durchhalten soll, drei und mehr Stunden am Flughafen in der Schlange zu stehen, und ihm macht das auch Gedanken. Mal schauen, ob wir für ihn einen Begleitservice bekommen. Und wir brauchen diese Auszeit inzwischen beide auch dringend. 

Natürlich arbeite ich in solchen Situationen mit Listen, um nicht total den Überblick zu verlieren, aber langsam verliere ich den Überblick über die Listen ... Ich darf auch nicht daran denken, wie es mir geht, dass ich seit Wochen wieder nur mit Schmerztabletten funktioniere, weil die Unterleibsschmerzen so stark sind, dass ich nicht weiß, woher ich die Zeit nehmen soll, Rezepte aus zwei Praxen abzuholen (neues Quartal, die müssen meine Karte einlesen, können deswegen nichts schicken), und ich bekomme langsam Probleme, die Corona-Test-Termine zu koordinieren, denn das ist immer auch eine Stunde, die eingeplant werden muss (der Weg zum Testzentrum und die Wartezeit dort). Noch bekomme ich die Tests kostenlos, mal schauen, wie lange noch - immer mehr Testzentren bieten nur kostenpflichtige Tests an, und die kosten mitnichten nur drei Euro, sondern zwischen 10 und 15 Euro. Schwierig wird es, wenn der Gatte für den Besuch bei seiner Mutter einen Test braucht, denn dazu bräuchte er ein Smartphone, das er nicht hat. Bislang wurde er vor Ort getestet, aber er informierte sich noch nicht, ob das weiterhin möglich ist. 

Schwiegermutter und Tante geht's den Umständen entsprechend gut. Tante schwächelte die Tage bei der Hitze, weil sie nicht genug trank - wieder mal. Schwiegermutter und sie haben sich aktuell in der Wolle, weil sie zwar zusammen urlauben wollen, Schwiegermutter aber nicht auf Tantes Bedürfnisse Rücksicht nehmen möchte. Das möchte sie nie, es muss sich immer alles nach Schwiegermutter richten. Wir sind gespannt, wie sich das entwickelt. Spannend wird es auch, wenn Schwiegermutter realisiert, dass wir wegziehen. Wird sich alles finden. 

Dieser Beitrag geht rüber zum Samstagsplausch bei Andrea. Vielen Dank für's Sammeln! Über's Kochen und Einkaufen berichte ich in der Kombüse.

1 Kommentar:

  1. Hallo,
    für ein paar Tage zu entspannen könnte man ja statt Mallorca an die Nordsee auf eine Insel fahren.
    Das wäre ja nicht sehr weit weg.
    Gruß
    Hannelore

    AntwortenLöschen

Kommentare von Corona-Leugner, Quer- und anderen Nicht-Denkern, Wahnwichteln, Das-ist-doch-nur-ne-Grippe-Schwurblern, Wir-haben-genug-freie-Intensivbetten-Rufern und ähnlichen Düffeldaffeln werden gelöscht.