Sonntag, 5. Februar 2023

#WMDEDGT 2/23: Himmel und Hölle

Heute ist wieder der fünfte Tag des Monats, und Frau Brüllen fragt "Was machst Du eigentlich den ganzen Tag?", kurz WMDEDGT? Vielen Dank für's Sammeln! 

Der Tag beginnt kurz nach Mitternacht. Die Nacht ist typisch für unser Leben nach dem Schlaganfall des Gatten. Das Krankenhaus versucht, endlich seinen Diabetes einzustellen, etwas, das seinem Diabetologen seit zwei Jahrzehnten nicht gelingt. Der Gatte bekam in Krankenhaus einen neuen Spritzplan, durch den er noch öfter unterzuckert als vorher. Ob das so soll? Wir hoffen jedenfalls auf den Diabetologen in der lindgrünen Hölle, zu dem der Gatte wechseln will, sobald wir umgezogen sind (und sofern der Arzt überhaupt neue Patienten nimmt).

Kurz nach Mitternacht piepst der Diabetessensor Alarm. Ich werfe einen Blick auf den Wert und wecke den Gatten, der das Piepsen nicht registrierte. Den noch halb schlafenden Gatten mit Dextrose versorgen, dann selbst versuchen, weiterzuschlafen. 

Anderthalb Stunden später der nächste Alarm. Wieder den Gatten wecken, der flucht, dass er endlich mal wieder eine Nacht durchschlafen möchte - wer nicht?! - und nochmal Dextrose einflößen. Der Gatte schläft sofort wieder ein, während ich wach liege und lese*. In der Wohnung würde ich jetzt aufstehen und etwas Hausarbeit machen oder bloggen, aber im Haus würde ich damit den Gatten wecken, denn wir haben aktuell nur ein Zimmer, das bewohnbar ist. 

Gut, dass ich noch wach bin, denn dreißig Minuten später kommt der nächste Alarm. Diesmal wird dem Gatten Apfelsaft eingeflößt, und der bringt es endlich. Ich lese noch, bis ich sicher bin, dass der Blutzucker langsam steigt, und versuche dann auch noch etwas zu schlafen. Im Halbschlaf nehme ich irgendwann wahr, dass der Gatte aufsteht, werde so weit wach, um zu registrieren, dass er keine Hilfe braucht, und schlafe weiter. 

Um acht Uhr klingelt der Wecker, wie so ziemlich jeden Sonntag, denn ich besuche Mudderns im Pflegeheim. Heute wollen wir zum Friedhof. Mein Vater hatte Todestag. Als ich im Heim ankomme, ist Mudderns schon im Foyer. Das ist gut, das heißt, sie erinnert sich daran, dass wir verabredet sind. Sie ist allerdings noch im Schlafanzug, besteht aber darauf, dass sie keinen Schlafanzug trägt. Nun denn. 

Wie nicht anders zu erwarten, ist der Ausflug ausgesprochen anstrengend. Es gelingt mit Mühe, Mudderns auf den Friedhof zu bekommen, denn die Friedhofstraße besteht aus Kopfsteinpflaster, das Mudderns mit Rollator nur schwer bewältigt, auch, wenn es nur die paar Meter von einer Straßenseite zur anderen sind. Sie kann ohnehin kaum noch gehen. Mudderns weiß nicht mehr, wo das Grab ist, und greift mich an, weil ich das auch nicht weiß. Ja, ich bin eine schlechte Tochter, ich weiß (ich war vor fünf Jahren zuletzt am Grab, und Mudderns war auch schon lange nicht mehr dort, weil sie den Weg zu Fuß nicht mehr schafft und bis heute alle Angebote, sie zu fahren, ablehnte). 

Wir schaffen es bis zur Reihe, in der das Grab meines Vaters ist, und dann verlangt Mudderns, dass ich das Auto hole, um sie bis zum Grab zu fahren. Ähm, ja, nee, is klaa. Natürlich weigere ich mich, mit dem Auto auf den Friedhof und bis zum Grab zu fahren, was einen mütterlichen Schrei- und Wutanfall zur Folge hat. Ich bin kurz davor, meine Mutter einfach stehen zu lassen. Da sie keinen Meter weitergehen will, gehe ich alleine zum Grab, um die mitgebrachten Blumen niederzulegen. Ich registriere, dass die beiden Vögelchen, die Mudderns auf einen Ziegelstein setzte, abgeplatzt sind, und nehme mir vor, bald wiederzukommen, um den Stein zu holen und den Gatten zu bitten, sie wieder festzukleben, wenn das geht.

Als ich zurückkomme, erklärt Mudderns sich bereit, zum Friedhofsausgang zu gehen - als hätte sie eine Wahl. Natürlich könnte sie sich auf den Rollator setzen und schieben lassen, aber das verweigert sie genau so beharrlich wie einen Rollstuhl. Am Ausgang weigert sie sich, die Straße zu überqueren, so dass ich den Wagen wenden und im Parkverbot abstellen muss, damit sie einsteigen kann. 

Jetzt will Mudderns Kaffee trinken, also auf zum Bäcker, der sonntags geöffnet hat. Ich habe die Straßenführungen in der alten neuen Heimat noch nicht drauf, registriere zu spät, dass ich in einer Sackgasse bin, was einen erneuten mütterlichen Schrei- und Wutanfall zur Folge hat. Beim Bäcker verzichtet Mudderns darauf, aus dem Auto auszusteigen, und ich nutze den ruhigen Moment, um neben dem Kaffee für den Gatten und mich Brötchen und Kuchen mitzubringen. Der Kuchen heißt "Himmel und Hölle". Passt. Normalerweise trinkt Mudderns Latte macchiato, aber heute ist das falsch, passt ihr irgendwas an dem Getränk nicht, ohne dass sie sagen kann, was, denn ihr fehlen die passenden Worte.

Zurück im Heim, interessiert sich niemand für einen aktuellen Corona-Test (wie gut, dass ich auf den halbstündigen Weg zur Teststelle verzichtete), drückt Mudderns mir einen Haufen Papiere in die Hand. Einen weiteren bekomme ich von einer Pflegekraft, darunter auch Rechnungen aus Dezember. Großartig. 

Mudderns zeigt mir stolz die Nesteldecke, die ihr ihre Gesellschafterin strickte. Ich freue mich darüber, nur sitze ich gerade selbst an einer Nesteldecke für Mudderns. Die brauche ich ihr nicht zu schenken, denn an die der Gesellschafterin reicht meine nicht heran. Vielleicht mag die Sandkastenfreundin sie haben für ihre demente Mutter. Andernfalls muss ich mal gucken, wem ich damit eine Freude machen kann. 

Wieder zu Hause, ist der Gatte gerade mit dem Frühstück fertig, kommen die Brötchen zu spät für ihn. Im Heim war ein Aushang, dass ein Auto-Stellplatz zu vermieten ist. Ich stimme kurz mit dem Gatten ab, dass wir einen Stellplatz möchten, rufe bei der angegebenen Telefonnummer an, erfahre die Konditionen und kann sofort vorbeikommen, um den Vertrag zu unterschreiben. Die Parksituation in der Straße, in der unser Haus ist, ist prekärer als in der Hamburger Innenstadt, so dass ich froh bin, dass wenigstens schon mal das Karlchen einen Stellplatz hat, der zudem auch nur 200 Meter entfernt ist (und erschwinglich). Der Stellplatz ist in der Anlage, in der sich neben Mudderns Pflegeheim auch betreute Wohnungen befinden. Das Ehepaar, das den Stellplatz vermietet, fragt, warum ich den Platz möchte, gehört zur Bewohnervertretung der Anlange, über die wir uns kurz unterhalten. Sie bestätigen mich daran, dass die Entscheidung, Mudderns im Pflegeheim unterzubringen, richtig war, denn in der Wohnanlage gibt es keine Betreuung. Das war ja auch unser Eindruck, als wir im Sommer eine Wohnung besichtigten.

Auf dem Rückweg registriere ich, dass der Friedhof natürlich nicht nur einen Eingang, sondern auch einen Ausgang hat, und dort ist die Straße asphaltiert, ist man schneller bei Vadderns Grab. Ich werde Mudderns vorschlagen, kommenden Sonntag von der Seite zum Grab zu gehen, rechne aber damit, dass sie das ablehnt, denn sie will ja keine Lösungen haben, sondern Probleme. 

Um 12 Uhr komme ich endlich zum Frühstücken. Draußen beginnt es zu schneien, und so beschließen wir, schon jetzt zurück nach Hamburg zu fahren, bevor das Wetter noch schlechter wird. Der Gatte ist als erster mit dem Packen fertig und fährt vor. Eigentlich wollte er noch bis Montag bleiben, aber ihm ging die Farbe aus, und die kaufte er in Hamburg im Baumarkt, kann sie auch nur dort nachkaufen. Ich bleibe noch, um Papiere zu sortieren, abzuwaschen und zu saugen, stelle dabei fest, dass Mudderns Staubsauger nicht sehr effektiv ist. Ich widerstehe dem spontanen Drang, einen neuen zu bestellen. Das Auto beladen, tanken, und gegen halb drei bin ich dann auch auf der Autobahn. Es ist leer, ich brauche kaum 30 Minuten. Je näher ich unserer Wohnung komme, desto mehr stelle ich fest, dass es sich nicht mehr wie nach Hause kommen anfühlt. Später bei der Teezeit stellt sich heraus, dass der Gatte dieses Gefühl teilt. 

In der Straße ist natürlich kein Parkplatz frei, also kurz in zweiter Reihe halten, die Taschen vor die Wohnungstür hieven, dann den Wagen in die Garage bringen. Briefkasten leeren, dann die Taschen in die Wohnung wuchten, wo mir der Gatte unterzuckert entgegen kommt. Er aß zwar schon ein Fertiggericht, das er für genau diese Fälle da hat, aber das brachte nichts, und den Dextrose-Vorrat findet er nicht. Den Gatten versorgen, dann die Lebensmittel wegsortieren und die untere Hälfte der Spülmaschine ausräumen (die obere erledigte ich schon Donnerstag, bevor wir ins Haus fuhren). Leider vergaß ich den Reibekäse für das morgige Abendessen. Der Gatte wird morgen neuen besorgen.

Teezeit mit dem "Himmel und Hölle"-Kuchen, der sich als ausgesprochen lecker erweist, dann saugen und wischen, eine Maschine Wäsche anwerfen, getrocknete Wäsche von Donnerstag abnehmen, sortieren und wegräumen. 

Mittlerweile ist es 18 Uhr, Zeit für das tägliche Telefonat mit Mudderns. 

Einen Zahlungsauftrag für die Baukredit-Bank fertig machen, dann den Dauerauftrag für den Stellplatzvermieter fertig machen wollen und feststellen, dass ich den Mietvertrag schon im Haus ablegte. Doof das. Das muss also warten. 

Der Gatte bietet an, einen Salat zum Abendessen zu machen und, einmal in der Küche, und weil er merkt, dass ich beschäftigt bin, gibt er auch gleich noch die Ofen-Baguettes in den Ofen.

Abendessen, dann die Tablettendose für die kommende Woche füllen und endlich die Migränetablette nehmen, die ich den ganzen Tag schon nehmen wollte, damit ich morgen nicht komplett außer Gefecht gesetzt bin. Die zweite Maschine Wäsche anwerfen. Pünktlich zum "Polizeiruf" kann ich die Füße hochlegen, und weil alles danach aussieht, als hätte ich tatsächlich mal eine störungsfreie Stunde, gönne ich meinen Füßen Hornhautentfernungssocken. Während die einziehen, beginne ich mit dem vorletzten Streifen der Nesteldecke. Mit Mühe schaffe ich es, während des Krimis wachzubleiben, was nicht am Krimi liegt. Ich habe keine Kraft mehr, auf die zweite Wäscheladung zu warten, sondern falle nach dem Krimi direkt ins Bett. Noch etwas lesen*, dann hoffentlich störungsfreier schlafen als in der letzten Nacht. 

Der Blick zurück in die ersten drei Corona-Jahre: Am 5. Februar 2020 erfasste uns langsam die Coronahysterie in Form von vergriffenen Desinfektionsmittel, ging ich noch davon aus, dass mein Mammutprojekt noch ein paar Monate analog bleibt. Am 5. Februar 2021 gab's schon einen Impfstoff gegen Corona, hatten wir noch die Hoffnung, dass der Gatte gesund wird. Am 5. Februar 2022 wussten wir schon, dass der Gatte nicht mehr gesund wird, waren noch immer mit der Schlafzimmerrenovierung beschäftigt.

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2 Kommentare:

  1. Uff ich muss sagen, ich bewundere Sie, wie Sie das alles schaffen! Ich lese schon lange iIhre Beiträge und denke immer wieder: das würde ich nicht schaffen. Aber welche Wahl haben Sie? Genau….Ich betreue meine an Alzheimer erkrankte Schwester (sie ist erst 60 Jahre) und habe auch meine Mutter betreut, als sie bei uns wohnte. Ich weiß also, wovon Sie erzählen und Sie haben meinen vollen Respekt. Gerade der Umgang mit Demenz Kranken erfordert soviel Geduld und man muss sich immer wieder sagen, dass ist die Krankheit, sie macht es nicht mit Absicht. Dazu jetzt die Renovierung Ihres Hauses und der Umzug, ganz zu schweigen von der Krankheit Ihres Gatten. Wir ziehen auch dieses Jahr um in eine neue barrierefreie Wohnung und verkaufen unser Haus. Das gibt auch ein Stück Arbeit aber die Wohnung wird neu gebaut und wir müssen nichts selber machen. Ich wünsche Ihnen, dass Sie bei Kräften bleiben und das weiterhin alles stemmen können.
    Ich grüße Sie ganz herzlich 🙋🏻‍♀️
    Susanne K.

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    1. Respekt und gute Wünsche gebe ich gerne zurück, liebe Susanne K.! Der Einzug in eine Neubauwohnung ist etwas ganz besonderes. Alles Gute schon mal für Umzug und Einleben! Meine Mutter war bislang nicht dement, sondern ist schon sehr lange psychisch krank, will aber keine Hilfe. Jetzt müssen wir laut Hausarzt zusätzlich von einer beginnenden Demenz ausgehen. Es ist schon eine Hilfe, dass ich sie im Pflegeheim sicher untergebracht weiß, wenngleich sie dort nicht sein möchte, und dass ihre Gesellschafterin weiterhin zwei Mal in der Woche kommt. Sie hat noch am Meisten Zugang zu meiner Mutter.
      Herzliche Grüße
      Sabine

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